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Entrepreneurial strategies – Insight #2 (in German)

Eine Bühne für die Wirklichkeit – Theater St. Gallen

Eine Bühne für die Wirklichkeit

Seit der Spielzeit 2016/17 leitet Jonas Knecht als Direktor die Sparte Schauspiel am Theater St. Gallen. Er haucht dem Theater als «Heimkehrer» ein wenig Avantgarde ein: etwas Fortschrittsmut und Radikalitätsbereitschaft gegenüber den über die Jahre heimisch gewordenen künstlerischen und ästhetischen Normen. «Ich möchte uns zeitgemäss auf der Bühne präsentieren, die ganze Bandbreite sinnlicher Mittel wie Musik, Performance, Bildende Kunst, Tanz und Schauspiel einsetzen und ein breites Publikum ansprechen.» Knecht will über das sinnliche Erleben von «Wirklichkeitsschnitzen » zum Nachdenken anregen. «Wie geht es uns, der Welt und der Gesellschaft? » Die entsprechende Erfahrung schöpft der gebürtige St. Galler aus seiner Zeit als Theatermacher in der freien Szene, in der er sich mit Basis in Berlin einen festen Namen in der Branche machte. Nach fast zwei Jahrzehnten des Arbeitens mit Bedingungen zwischen fest und frei, hier und da, finanziert und unsicher, schätzt Knecht die Vorzüge der institutionellen Arbeit: «die kontinuierliche Arbeit in einem Team, die Arbeit mit einem festen Ensemble, innerhalb eines finanzierten Rahmens».

Theater der Ostschweiz

Das Theater St. Gallen, das gleichzeitig die St. Galler Festspiele veranstaltet, ist mit Musiktheater, Schauspiel und Tanz das einzige Dreispartenhaus in der Region Bodensee. Getragen wird es durch die Kantone St. Gallen, Thurgau, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden. Das Theater befindet sich in dem 1968 eröffneten Sichtbetonhaus am Stadtpark. «Dieser Bau ist so ehrwürdig, dass es gerade für die jungen Leute eine Hemmschwelle ist, hierher zu kommen.» Das sechseckige, durch seinen brutistischen Stil auffallende Haus beherbergt einen grossen Theatersaal und eine Studiobühne. Daneben bespielt das Theater mit der kreisförmigen Lokremise beim Bahnhof und einem mobilen Spielcontainer zwei separate unkonventionellere Spielstätten, die auch viel junges Publikum anziehen.

Eine Debatte macht mobil

Im März 2018 stimmte die St. Galler Bevölkerung nach einer harten Debatte über eine Sanierung des seit 2011 denkmalgeschützten Stammhauses für knapp 50 Millionen Franken zu. Die SVP hatte diese Abstimmung mit einem Ratsreferendum im Kantonsparlament erzwungen. «Obwohl der Sanierungsbedarf des Hauses mit leckenden Heizungen, einer schadhaften Gebäudehülle und mangelndem Platz in den Werkstätten unbestritten war, konnten wir über den Ausgang der Abstimmung nicht sicher sein.» Die Debatte über die Sanierung hatte sich zu einer Debatte über die Gesamtkulturszene St. Gallens ausgeweitet. «Ein ‹Nein zur Renovierung› wäre ein ‹Nein zur Kultur› gewesen. So kam die Unterstützung auch aus der alternativen Szene. Das Ostschweizer Kulturmagazin Saiten initiierte Ja-kob – Ja zur Kultur in der Ostschweiz, bitte und trug damit massgeblich zum Abstimmungskampf bei – ein wunderbarer Akt von Solidarität unter Kulturschaffenden, fernab vom Institutionsdenken.»

Unterschätztes St. Gallen

Ja-kob besteht weiter und hat sich der Förderung eines kulturfreundlichen Klimas verschrieben. Ein schöner Nebeneffekt wäre gemäss Knecht die Aufwertung des Images von St. Gallen: «Mit seinem problematischen Selbstbewusstsein stellen sich St. Gallen und die gesamte Ostschweiz in ein schlechtes, selbstverprovinzialisierndes Licht. Dabei könnte die Region mit Stolz auf seine Berge, den Bodensee, die üppige Natur, seine Geschichte und seine Vorzüge als mittelgrosse Schweizer Stadt blicken. Man erinnere sich nur an die Blüte im Zuge der Textilindustrie, als es eine Direktverbindung von Paris nach St. Gallen gab, die nicht einmal Zürich bediente.» Knechts Bedauern über das Versäumnis, auf dieser Textilgeschichte allenfalls mit der Gründung einer Hochschule für Kunst, Mode oder Textildesign aufzubauen, könnte stellvertretend für viele aus der Kreativszene stehen.

Postdramatik und ihre Folgen

Von der Provinzialität will Knecht auch sein Theater abgrenzen: «Ich habe den Anspruch, künstlerisch hochstehendes Theater zu zeigen, das sich in neuen Formen, zeitgenössisch und aktuell vom bisher vorherrschenden psychologisch-realistischen Programm- und Theaterstil abgrenzt.» Beispielhaft für ein solches postdramatisches Theater steht die Inszenierung Eine Familie des Regisseurs Wojtek Klemms, mit der die Saison 2016/17 endete. «Wojtek hat alles ins Bild, in Bewegung, in Tanz, in Geste und vor allem in bittere Komik umgesetzt – physisch, zum Teil sehr laut und bisweilen übertrieben. » Während die Kritik das Stück feierte, verliess das Publikum zum Teil den Saal. Für einen zunächst zerrissenen Knecht überwiegt am Ende die Überzeugung: «Endlich wieder einmal Theater, das etwas auslöst!» Und er wird seine Strategie weiterverfolgen, verschiedene Formate an verschiedenen Aufführungsorten mit einem bunten Strauss an Regiehandschriften anzubieten. Ein zunehmend wegbrechendes Publikum, das «den Titel nicht kennt und deshalb nicht kommt», kompensiert das Haus mit Publikumsschichten, die neu sind. Mit der Initiation des blauen Schiffscontainers Container. St. Gallen wiederum will Knecht «das Theater öffnen, es näher an die Stadt, auf die Gasse und an die Bevölkerung bringen und niederschwellige Angebote schaffen. Auch, um dem Namen Kantonstheater gerecht zu werden.» So tourt der umgebaute Überseecontainer beispielsweise seit der Spielzeit 2018/19 durch das Rheintal bis nach Chur.

Zahlenakrobatik

Am Ende des Tages jedoch, wird auch Knechts Erfolg an Zahlen gemessen: Zwar steht das Haus mit rund 260 Festangestellten und etwa derselben Anzahl Freischaffender bei einer Auslastung von 76 Prozent und eine Eigenwirtschaftlichkeit von 30 Prozent überdurchschnittlich gut da. Allerdings sind diese Zahlen, die durch den Leistungsauftrag gefordert sind, nicht mehr ohne Weiteres zu erreichen: «Weil das Abosystem ausgedient hat, ist die Grundauslastung durch diese Einnahmequelle nicht mehr gegeben. » Hier erweist es sich als wertvoll, dass vieles am Theater St. Gallen im Windschatten des Musicals fährt. Eine Sparte, mit der sich das Theaterhaus einen internationalen Namen geschaffen hat und tausende Zuschauer aus allen Himmelsrichtungen, teilweise in Form von organisierten Busreisen und Pauschalangeboten, anlockt. Die Musicals sind gut ausgelastet und dank grosser Sponsoren überdurchschnittlich stark drittmittelfinanziert. Dadurch können sperrigere und weniger verkaufsträchtige Produktionen, insbesondere beim Sprechtheater, querfinanziert werden.

Balanceakt

Neben seiner eigenen kreativen Tätigkeit, der Programmation und Setzung von gesellschaftlich relevanten Themen wie etwa im Doku-Drama Lugano Paradiso zur Geheimorganisation P26 und zur Rolle der Schweiz während des Kalten Krieges, plant und verwaltet Knecht in seiner neuen Leitungsposition die Kreativität seiner Angestellten, vertreibt die Ergebnisse und evaluiert sie. Das behagt ihm nicht immer gleich, wird aber weggeblasen, wenn ihn die Leute auf der Strasse ansprechen und sagen: «Ich war nach langer Zeit mal wieder im Theater, das ist ja total lässig, was ihr macht. Ich habe jetzt wieder ein Abo.» Oder bei Begegnungen im Haus: «Wenn ich spüre, dass die Schneiderin, die Tischler, Schlosser und Techniker hinter uns Theatermachern stehen. Oder wenn aus dem Applaus des Premierenpublikums der Respekt für unsere Arbeit herauszuspüren ist.» Diese Momente der Wertschätzung sind enorm wichtig für Knecht. Sie machen die bisweilen schmerzlich vermisste Zeit wett, die er als freier Theatermacher für das Lesen, das Denken, das Sein und das künstlerische Experiment hatte. Und so gilt es auch für Knecht auf der Bühne des Lebens die Balance zu finden zwischen Autonomie und Sicherheit, zwischen Momentum und Perspektive, zwischen Kreativität und Management.

Interview: Cyril Kennel, Text: Janine Schiller, Katharina Nill

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